Tuesday, January 31, 2012

Politician who reads Goethe and Shakespeare

Below is an interview with Sahra Wagenknecht.

Alas, it's in German but anyone who can, please read it as it in so many ways gives a hint of something very German and something wonderful too.

Sahra was born in Jena in the former GDR. She never knew her father, who was Iranian.

Wagenkenecht is a figure of great love and hatred too in Germany.

Indeed, these days the Federal Internal Security Services are 'spying' on her party, Die Linke. No doubt there is a subtantial file on her in Berlin.

It is said she knows large tracts of Goethe off-by-heart. What she likes doing most of all in her free time is reading Shakespeare and Goethe.

Presumably the Guenter Gaus who carries out this interview is the same man who was the first 'German representative' in East Berlin.

Wagenknecht, Sahra
Günter Gaus im Gespräch mit Sahra Wagenknecht

Gaus:
Meine heutige Interviewpartnerin Sahra Wagenknecht, geboren 1969 in Jena, damals DDR, ist eine der umstrittensten Menschen in der deutschen Politik. Sie ist im Frühjahr 1989 in die SED eingetreten. Sie gehört zum Vorstand der PDS. Sie ist heftig attackiert worden, weil sie ein führendes Mitglied der Kommunistischen Plattform ist. Sie hat eine anspruchsvolle Magisterarbeit abgeliefert und promoviert demnächst in Volkswirtschaft. Sahra Wagenknecht ist verheiratet. Sehen Sie ‚Zur Person’ Sahra Wagenknecht.
Haben Sie den Film „Good bye, Lenin“ gesehen, Frau Wagenknecht?

Wagenknecht:
Direkt voriges Jahr bei der Berlinale, also bei der Premiere.

Gaus:
Wie hat er Ihnen gefallen?

Wagenknecht:
Also ich denke, zum einen war es natürlich ein Bruch mit dieser unsäglichen, denunziatorischen Art mit der DDR-Geschichte umzugehen. Aber auch in dem Film finde ich bestimmte Dinge gebrochen. Also, ich glaube, dass es einerseits aufgegriffen hat, was sehr, sehr viele Leute erlebt haben, woran sie sich auch erinnern. Aber auch in der Hauptfigur ist natürlich zum Schluss dieser Bruch, wo sie sagt, dass es natürlich ihr Grundfehler war. Und ich denke, dass das nicht unbedingt dann auch durchziehend glaubwürdig ist.

Gaus:
Sie haben mich jetzt übrigens 20 Euro gekostet. Ich habe gewettet, ob Sahra Wagenknecht den Film gesehen hat, oder nicht. Und ich habe gesagt, den hat die nicht gesehen.

Wagenknecht:
Wie kamen sie darauf?

Gaus:
Ich habe ihn nicht gesehen. Also – 20 Euro.
Wie lebt es sich denn damit Frau Wagenknecht, außer einer sehr kleinen Minderheit der Kommunistischen Plattform in der PDS, eine Dissidentin zu sein? Öffentlich bespöttelt, gelegentlich verhöhnt, manchmal verfemt - wie lebt es sich damit, eine Dissidentin zu sein?

Wagenknecht:
Also, ich kann damit eigentlich leben, weil ich das Gefühl habe, dass ich nicht so eine winzige Minderheit nur repräsentiere. Wenn ich jetzt den Eindruck hätte, dass ich auch insgesamt keine Resonanz bekäme, dass das, was ich vertrete, nur von einem ganz winzigen Kreis von Leuten auch geteilt wird, dann würde das sicher irgendwann auch entmutigen. Aber ich habe sowohl von dem, was ich an Post bekomme, als auch ganz direkten Reaktionen tagsüber in der S-Bahn, wenn ich unterwegs bin, schon das Gefühl, dass gar nicht so wenige Leute ähnlich denken. Also das Gefühl haben, dass es so wie jetzt nicht weitergeht und dass sie nach Auswegen suchen. Und ich denke auch - bezogen auf Vergangenheit - das hat sich ja nun inzwischen auch gezeigt, dass die Leute sich nicht einreden lassen, dass die DDR so war, wie die Bundesrepublik sie darstellen wollte.

Gaus:
Hat sich das verstärkt, dass die Leute sie anreden?

Wagenknecht:
Das hat sich in den letzten vier, fünf Jahren schon deutlich - also gerade ein, zwei Jahren deutlich verstärkt, ja. Also, was ich interessant finde, ist vor allem, dass ich vor allem im letzten Jahr sehr, sehr viel Post von jungen Leuten bekommen habe. Also es war so – sicherlich ich hatte immer Resonanz und ich hatte auch immer Menschen, die mich angesprochen haben, aber dass es vor allem ganz junge Leute sind, dass es Schüler sind, die auch in meine Veranstaltungen kommen, das ist neu. Und das finde ich schon sehr ermutigend.

Gaus:
Wonach fragen die?

Wagenknecht:
Die fragen interessanterweise nicht nur danach, oder nicht primär danach, ob ich jetzt bei der ein oder anderen Steuer meine, dass man die anders machen könnte. Die fragen schon, ob wir grundsätzlich andere Visionen haben, andere Alternativen, andere Gesellschaftsvorstellungen. Also ich war vor kurzem beispielsweise eingeladen bei einem katholischen Mädchengymnasium in Hessen - was sicherlich nicht ein Terrain ist, wo bisher die PDS oder die Linke große Resonanz bekommen hat. Und diese Mädchen haben mich eingeladen, weil sie das, was sie in der Geschichte über Sozialismus, über Kommunismus gelernt haben, nicht befriedigt hat, weil sie da Fragen hatten und die wollten sie mit mir diskutieren. Und das Interessante war, dass bei aller Skepsis, die sie natürlich auch gegenüber den Dingen hatten, die ich gesagt habe, dass wir diese Grundansicht, dass es so wie es jetzt ist, nicht weitergeht, die haben wir geteilt. Und die haben sie mit mir geteilt. Sie wollten halt mit mir darüber reden, welche Vorstellungen, welche Ansichten wir darüber haben. Und was ich natürlich interessant finde, sie laden sich dafür eben nicht jemanden ein aus der SPD, aus der CDU oder aus sonst einer etablierten...

Gaus:
...oder aus der Mehrheit der PDS?

Wagenknecht:
Tja, ganz konkret wollten sie es eben von mir wissen. Und ich denke, dass nach dem Gespräch manche Klischees einfach auch aufgebrochen waren, die vorher vielleicht existierten.

Gaus:
Das heißt - Sie sagen, das ist gar nicht wahr. Das, was ich fragen wollte, ist ein bisschen durch das, was Sie gesagt haben - klingt ein bisschen wie widerlegt. Fragen wollte ich und Sie sagen: ‚Nee, das ist gar nicht so’. Hat die bundesrepublikanische Gesellschaft seit der 68er Bewegung zu wenig Dissidenten?

Wagenknecht:
Also, ich denke, dass sie sicherlich zu wenig Widerspruch hatte – bezogen auf Positionen, die wirklich auch für andere Alternativen standen. Nun war das sicherlich auch durch Kalten Krieg, dadurch, dass es in der DDR eine sehr konkrete Alternative gab, die auch nicht für jeden attraktiv war.

Gaus:
Ich meine die Bundesrepublik jetzt. Die vereinigte Bundesrepublik, den Einheitsstaat. Vorher, vor der Vereinigung war die Dissidentenbewegung die 68er. Meine Frage ist also: Trotz Ihrer Erfahrungen, dass mehr Leute sich kümmern, dass Sie eingeladen werden – bis hin zu katholischen Mädchengymnasien. Was in der Tat nicht das ist, was man erwartet, wenn man über Sie in der Zeitung liest. Dennoch sind es immer noch zu wenig. Nimmt eine Gesellschaft Schaden - nach Ihrer Meinung - wenn sie zu wenig Dissidenten hat?

Wagenknecht:
Ja das kommt darauf an, was man sich von dieser Gesellschaft erwartet. Also die Ökonomie, die Wirtschaft, die Wirtschaftselite, die Wirtschaftslobbys, die nehmen sicherlich keinen Schaden. Die sind sehr zufrieden darüber, dass sie so wenig Widerspruch haben. Aber ich denke, dass natürlich die gesamte Entwicklung, die sich gegenwärtig vollzieht, ja zeigt, dass die große Mehrheit letztlich ja Schaden nimmt - also ganz persönlich, ganz materiell, aber natürlich auch geistig. Also wenn ich mir die gängigen politischen Diskussionen angucke, es ist ja nicht nur, dass ich die Ansichten nicht teile, sondern es ist ja einfach auch vom Niveau unsäglich. Wenn man die üblichen Talkshows betrachtet, wenn man die Art dieser Schlagabtausche – es ist einfach überhaupt nichts mehr, was an Phantasie, was an Kreativität – da ist nichts mehr. Das ist einfach leer, da ist Ödnis. Und ich glaube, dass die Leute schon – dass auch eine Partei, die konsequent bestimmte Fragen aufwirft, die wirklich auch angriffslustig Oppositionsarbeit macht, dass die auch die Chance hat, in diesem Land relativ breiten Rückhalt zu bekommen.

Gaus:
Sind Sie eine geborene Dissidentin, Frau Wagenknecht? Als Sie in der DDR 1988 nach dem Abitur studieren wollten, hat man Ihnen gesagt, Sie sollten zunächst einmal lernen, sich in ein Kollektiv einzufügen. Sind Sie eine geborene Dissidentin?

Wagenknecht:
Ich glaube, geboren wird man dazu nicht. Also, ich würde mir wünschen, in einer Gesellschaft zu leben, wo ich nicht Dissident sein müsste. Ich denke nur, man muss – und vielleicht hat das etwas mit geboren, mit Anlage zu tun – ich würde mich nie verbiegen, wenn die Gesellschaft halt anders ist. Ich denke schon, dass jeder das Bedürfnis hat, lieber in Übereinstimmung mit seiner Umgebung zu leben, als in Kontrast zu ihr. Es ist ja auch viel anstrengender. Es ist auch nicht etwas, was einem in jeder Hinsicht immer besondere Erfolgserlebnisse bringt, wenn man sich gegen sehr viel stellt. Aber ich denke letztlich – also wie gesagt, ich hoffe auch noch mal eine Gesellschaft zu erleben, in der ich nicht Dissident sein muss.

Gaus:
Damit rechnen Sie? Wir kommen darauf, aber ich will an der Stelle schon mal fragen: Sie hoffen, dass Sie noch – Sie sind eine junge Frau, haben also noch eine lange Strecke vor sich, würde ich Ihnen wünschen – Sie denken, Sie kommen noch hin, in dieses gelobte Land, in diese Gesellschaft, die keine Dissidenten mehr hervorbringt? Wir kommen darauf, aber jetzt schon mal gefragt.

Wagenknecht:
Also, Dissidenten in dem Sinne, dass man sich grundsätzlich gegen den Ansatz dieser Gesellschaft stellen muss. Ich glaube, jede Gesellschaft - gerade eine sozialistische Gesellschaft - braucht Leute, die sie kritisch begleiten und muss gerade das auch fördern. Ich denke, dass das auch einer der ganz schlimmen Fehler unserer Geschichte war, dass wir das nicht aufgegriffen haben, nicht als Bereicherung verstanden haben; sondern, dass wir sehr schnell Kritik dann eben auch...

Gaus:
Das wäre meine nächste Frage. Warum ist die DDR als Staat und die SED als Staatspartei mit den Dissidenten in der DDR nicht zurechtkommen?

Wagenknecht:
Also, ich denke, das ist auch immer ein Zeichen von Schwäche. Es war vor allem – ich glaube, dass es auch unterschiedliche Umgehensweisen gab. Es gab in den 60er Jahren - die ich ja nun leider selber nicht erlebt habe, aber das haben mir eigentlich viele erzählt - auch eine Phase, wo das durchaus auch etwas anders gehandhabt wurde. Das ist dann später wirklich wieder in einer Versteinerung versunken. Ich denke, wenn eine Gesellschaft mit Kritikern nicht umgehen kann, ist das immer Schwäche, ist das immer die Angst, nicht mehr argumentieren zu können. Also in dem Augenblick, wo ich repressiv werde, habe ich ja Sorge, nicht mehr mit Argumenten meine Position, meine Politik, meine Grundansichten rechtfertigen zu können. Dann muss ich wegdrücken, was ich nicht will.

Gaus:
Ich habe bei der Vorbereitung auf dieses Interview an ein paar Stellen gelernt, dass Sie Ulbricht für den weitaus Bedeutenderen ansehen als Honecker.

Wagenknecht:
Also, ich glaube, dass er bei bestimmten Fragen – so weit ich mich damit auch historisch beschäftigt habe – wirklich erkannt hat, wo die DDR Veränderungen, neue Weichenstellungen...

Gaus:
...auf wirtschaftlichen...

Wagenknecht:
...auf wirtschaftlichem Gebiet vor allem. Also er hatte ja dieses neue ökonomische System. Er hatte auch sehr frühzeitig erkannt - diese gesamten Fragen der Mikroelektronik, der neuen Entwicklungen, dass die natürlich auch andere ökonomische Mechanismen brauchen. Also, dass diese überzentralisierte Planung, wo der Anspruch erhoben wurde, mit einer Planbehörde im Grunde die gesamte Gesellschaft, das gesamte ökonomische Leben zu dirigieren, dass das nicht funktionieren kann. Dass man die Leute einbeziehen muss, dass die Menschen auch Anreize haben müssen, dass sie kreativ sein müssen. Und das ist leider Gottes danach sehr abgewürgt worden.

Gaus:
Weil es nicht genügend Motivation gab, mangels Profit.

Wagenknecht:
Also, das halte ich eben auch für einen Grundirrtum - auch dieser heutigen Gesellschaft - dass Profit der einzige oder auch der wichtigste Motor von Motivation ist. Ich denke, Menschen sind ja vor allem motiviert, wenn sie ganz persönlich dann auch Anerkennung bekommen - sicherlich auch materielle Anreize. Nur heutzutage ist es ja nicht so, dass dieser Profitmechanismus Kreativität fördert, sondern im Gegenteil. Also gerade bei großen Aktiengesellschaften ist ja dieser Mechanismus des Shareholdervalue ein ganz kurzfristiger. Man nimmt im Grunde gar nicht mehr langfristige Unternehmensstrategien, sondern man nimmt, man versucht ganz kurzfristig die Rendite zu maximieren, wirft die Leute raus, wenn es notwendig ist. Und das ist, denke ich, eine Politik, die überhaupt nicht auch wirtschaftlich sinnvoll ist.

Gaus:
Sind wir uns einig, dass ziemlich viele der Dissidenten aus der DDR, wenn sie uns bis hier in diesem Interview gefolgt sind, wütend sind, weil der Ehrenname ‚Dissident’, der ganz und gar verkürzt bis auf Dissidenten in der DDR, auch auf Sie angewendet wird, von mir? Halten Sie das für wahrscheinlich, dass die das gerne hören oder dass die sagen: ‚Das ist eine Unverschämtheit’.

Wagenknecht:
Ich denke, das ist sehr unterschiedlich. Ich denke, man kann auch kaum alle, die die DDR kritisiert haben, sozusagen auch schwer unter einem Oberbegriff – also es gab die, die die DDR kritisiert haben, weil sie sie sich besser gewünscht hätten. Und es gab eben auch die anderen, die wirklich die DDR immer weg haben wollten.

Gaus:
Würden Sie gern Ihre Akte vom Verfassungsschutz mal lesen? Ich habe Sie nicht, ich kann Sie Ihnen nicht geben, aber...

Wagenknecht:
Ich weiß auch nicht, ob ich sie lesen wollte. Also ich glaube, das ist eher - das sind so Bereiche, ich gebe zu, ich verdränge das auch eher ein bisschen.

Gaus:
Zur Person Sahra Wagenknecht: Geboren am 16. Juli 1969 in Jena als uneheliches Kind. Die Mutter arbeitet im staatlichen Kunsthandel. Der Vater, den Sahra nicht kennen lernt, ist Iraner. Das Einzelkind wächst zunächst bei den Großeltern in Jena, dann bei der Mutter in Ostberlin auf. Sahra Wagenknecht setzt sich damit durch, nicht in den Kindergarten zu gehen. Später hält sie, Mitglied der FDJ, wie Angela Merkel Distanz zur Lagerfeuerromantik der Staatsjugend. Sind Sie eigenbrötlerisch gewesen und sind Sie es noch?

Wagenknecht:
Also, ein bisschen würde ich das nicht abstreiten. Ich glaube, als Kind war ich sogar sehr – also ich hatte überwiegend ältere Freunde und ich wollte eigentlich auch sehr frühzeitig – das war auch der Hintergrund, warum ich nicht in den Kindergarten wollte - also ich hatte ziemlich früh das Bedürfnis auch einfach was zu lernen, also Lesen zu lernen, Mathematik zu lernen.

Gaus:
Haben Sie je mit Puppen gespielt?

Wagenknecht:
Ganz früh schon.

Gaus:
Nur wenn Sie mussten.

Wagenknecht:
Doch, doch, ich habe schon auch gespielt. Natürlich. Aber ich habe ziemlich früh aufgehört, zu spielen. Und dann haben mir meine Großeltern eigentlich - also ich war überwiegend dann alleine zu Hause, weil meine Großmutter noch ziemlich jung war. Die war gerade 39 als ich geboren wurde, das heißt, die hat gearbeitet. Und sie haben mir aber schon natürlich bestimmte - die haben mir gelernt eben mit vier Jahren, dass ich also lesen konnte, dass ich schreiben konnte. Und das waren Dinge, die mich mehr fasziniert haben.

Gaus:
Goethes Faust I und II waren das Bildungserlebnis von Sahra Wagenknecht – ist das richtig?

Wagenknecht:
Da habe ich angefangen, über gesellschaftliche Fragen nachzudenken. Also vorher war ich mehr mathematisch interessiert. Ich habe magische Dreiecke oder magische Quadrate mir ausgedacht und solche Geschichten. Und ich habe dann über den Faust angefangen, tatsächlich sehr, sehr viel zu lesen. Also vor allen Dingen natürlich klassische Literatur. Und dann darüber auch zur klassischen Philosophie.

Gaus:
Von Goethe zu Marx?

Wagenknecht:
Über den Umweg von Hegel, ja. Und ich denke, das ist sogar ein ziemlich konsequenter Weg. Ich glaube nicht, dass man von Goethe zu dem kommen kann, was heute....

Gaus:
Man muss nicht bei der Lyrik bleiben...

Wagenknecht:
Selbst bei der Lyrik, selbst Goethes Lyrik, das ist ein - diese unglaubliche Kraft, die auch in diesem Menschenbild liegt, in der Überzeugung, obwohl man weiß, dass Menschen zum Schlimmsten fähig sind, immer weiter daran zu glauben, dass sie eben auch zum Besten, zum Edelsten wirklich auch in der Lage sind.

Gaus:
Woran ist die DDR zugrunde gegangen?

Wagenknecht:
Das ist schon eine Frage, die sich wirklich nicht in zwei Sätzen beantworten lässt.

Gaus:
Ich gebe Ihnen vier.

Wagenknecht:
Sie geben mir vier. Also ich denke, zum einen an dem mangelnden Einbeziehen der Menschen, an dem mangelnden letztlich auch Glauben an die Kraft der Menschen selber. Es war immer eine Gesellschaft - vor allem in den letzten Jahren - die von oben gemacht wurde. Und die natürlich dann auch misstraute, ob die Menschen, wenn man ihnen die Möglichkeiten und Freiräume gibt, ob sie es denn weiter tragen würden, oder ob sie – ob die Sache destruktiv würde. Das heißt, man hat es eigentlich für die Menschen zwar gemacht, aber nicht mit ihnen, nicht tatsächlich auch auf ihre Kreativität aufgebaut. Das, denke ich, war in allem - politischen System wie auch im wirtschaftlichen System - ein großes Problem. Man hat versucht, alles zu zentralisieren, weil man Sorge hatte, sonst die Macht zu verlieren. Und gerade dadurch hat man sie am Ende verloren.

Gaus:
Wie definieren Sie Freiheit?

Wagenknecht:
Also, ich denke, Freiheit ist tatsächlich, dass jeder die Möglichkeit hat, die Fähigkeiten, die Neigungen auch, die er hat, entfalten zu können und das nicht zu Lasten eines anderen. Also dort muss Freiheit auch begrenzt werden, wo es sozusagen zu Lasten anderer und zum Negativen anderer geht. Ich denke Freiheit ist auch - also schließt ein, dass ich natürlich bei unterschiedlichen Fähigkeiten, bei unterschiedlicher Begabung der eigenen Ellenbogen, dass ich sozusagen nicht dem die Freizügigkeit lasse, der am intensivsten seine Ellenbogen einsetzen kann; sondern, dass ich tatsächlich eine gemeinsame auch schaffe.

Gaus:
Ich zitiere jetzt aus einem längeren Text, der nicht von Ihnen ist. Also, Zitat: „Ich halte das bestehende parlamentarische System für unbrauchbar. Es heißt, wir haben in unserem Parlament keine Repräsentanten, die die Interessen unserer Bevölkerung, die wirklichen Interessen unserer Bevölkerung ausdrücken. Es gibt eine totale Trennung zwischen Repräsentanten im Parlament und dem in Unmündigkeit gehaltenen Volk.“ (Ende des Zitats). Es stammt aus einem Interview ‚Zur Person’, das ich im Dezember 1967 mit Rudi Dutschke gemacht habe. Können Sie dem Zitat zustimmen?

Wagenknecht:
Ich denke, es hängt natürlich auch davon ab, welche Repräsentanten in den Parlamenten sind. Also, als linke Partei muss man sich natürlich bemühen, auch parlamentarisch repräsentiert zu sein. Aber das Problem ist, in dem Augenblick, wo ich alles sozusagen auf das Parlamentarische beschränke, direkte Demokratie relativ dezimiere - so wie das bundesdeutsche System ja auch aufgebaut ist - sind natürlich Mechanismen da, dass tatsächlich die Politiker sich sehr, sehr weit von dem auch abheben können und von dem auch isolieren können, von dem was die Leute wollen, die sie einst gewählt haben. Also das was Schröder jetzt an Politik praktiziert, hat ja wirklich nichts mehr damit zu tun, mit den Hoffnungen, die sicher mancher ’98 noch - ich weiß nicht, ob noch 2002, aber zumindest am Beginn in diese Regierung gesetzt hat. Das heißt, sie können im Grunde sich auch davon vollkommen isolieren, weil natürlich auch letztlich die Auswahl zwischen CDU und SPD das Wahlkalkül sehr einschränkt. Und da denke ich, ist natürlich linke Politik auch gefordert. Also ich glaube nicht, dass man natürlich nur das Außerparlamentarische als Gegenkraft braucht, sondern ich denke, beides. Ich denke, dass das der Anspruch ist, den eine linke Partei letztlich erfüllen muss, dass sie tatsächlich so agiert. Dass sie außerparlamentarisch nicht nur repräsentiert; sondern, dass sie gemeinsam mit außerparlamentarischen Bewegungen dann auch wirkliche Opposition praktiziert.

Gaus:
Versuchen Sie mal zu definieren, was linke Politik ist.

Wagenknecht:
Also, ich denke, linke Politik in diesem Kapitalismus heißt, in den sozialen Auseinandersetzungen und zwar auf allen Ebenen, wo immer man politisch agiert - ob das außerparlamentarisch in Gewerkschaften ist, ob das im Parlament auch ist, ob das kommunal als Bürgermeister ist - dass man in den sozialen Auseinandersetzungen auf einer Seite, auf der richtigen Seite steht. Dass man tatsächlich für soziale Rechte streitet und dass man eine Perspektive vertritt und die auch konkret unterstützt, die jenseits dieses Kapitalismus liegt. Ich glaube, dass das schon dazugehört.

Gaus:
Ich habe bei der Vorbereitung auf dieses Interview ein paar Mal an Rudi Dutschke, an das Interview mit Rudi Dutschke im Dezember ’67 denken müssen. Ich bin wirklich sehr neugierig, welche Reaktionen dieses Interview, unseres, finden wird. Seinerzeit das mit Dutschke war in einer Zeit – die 68er Bewegung kam groß raus - wo das mit großer Anteilnahme verfolgt wurde. Rechnen Sie damit, dass Sie Anteilnahme wecken können, für das, was Sie vorhaben?

Wagenknecht:
Also, wenn ich das nicht hoffen würde und auch das Gefühl hätte, dass gar nicht so wenige Menschen natürlich darüber nachdenken, über Alternativen, dann würde ich das alles nicht machen. Und ich glaube schon – auch das was jeder täglich erlebt, wie diese Gesellschaft, mit welcher Hemmungslosigkeit sie auch Leute ins soziale Nichts schleudert, mit welcher Hemmungslosigkeit sie wirklich auf der einen Seite unglaublichen Reichtum produziert und sozusagen dort noch verstärkt, währenddessen im anderen Bereich also immer mehr Leute schlicht und ergreifend nicht mehr wissen, wie sie ihren Lebensunterhalt finanzieren sollen. Da ist doch völlig klar, dass das auch irgendwann eine Auflehnung geben wird und dass sich Leute dagegen auch wehren werden.

Gaus:
Woran liegt das? Dass das so gut wie immer nur eine Minderheitenposition ist - diese Einsicht in bestimmte soziale Verwerfungen und Niederbrüche in dieser an sich reichen Gesellschaft. Neigen die Menschen - so wie Sie die Menschen sehen, wie Sie sie bisher sehen - neigen die Menschen dazu, lange Zeit die Augen zu schließen?

Wagenknecht:
Ich glaube nicht, dass es nur die Frage ist, ob sie die Augen schließen. Ich denke, das Grundproblem ist, dass viele keinen Ausweg sehen. Also wenn ich mit Leuten diskutiere und sie auch frage, warum sie sich nicht in irgendeiner Form - das muss ja nicht in einer Partei sein - in irgendeiner Form engagieren, dann ist eigentlich das Argument, das ich höre ganz selten, dass die Leute mir sagen: ‚Na ja insgesamt ist ja diese Gesellschaft ganz vertretbar und wir können damit gut leben’. Sondern - ich denke, was ich höre, ist in der Regel: ‚Ja, wir können ja nichts machen’. Das heißt, man hat den Leuten eingeredet - und das ist ja so eine Grundbotschaft - sie sind ohnmächtig, sie können nichts machen, sie können sich nicht wehren. Ich glaube, dass das die Haupthürde ist, die man aufbrechen muss. Also, dass man deutlich macht, die Menschen können was ändern. Wenn sich viele Leute wehren, dann ist auch ein Druckpotential da, das natürlich Politik beeinflusst. Und so sind ja auch historisch diesem Kapitalismus alle sozialen Rechte abgerungen worden, von denen er sich zur Zeit wieder befreit. Das war ja nichts, was als Großzügigkeit irgendwann zugestanden wurde. Also angefangen von Bismarck war es immer die Drohung - damals noch einer wirklich revolutionären Sozialdemokratie - die Drohung, dass dann sozusagen ja Widerstandbewegungen stärker werden, die dazu geführt hat, dass man bestimmte soziale Rechte letztlich dann doch umgesetzt hat.

Gaus:
Sind wir möglicherweise in einer Situation, in der die Manipulationsmöglichkeiten so groß geworden sind, dass die Schafsgeduld fast unendlich geworden ist? In der DDR haben manche nachdenkliche Leute gesagt – ich glaube, Loest hat das auch in einem Buchtitel verwendet – dass die Schafe zu geduldig sind. Haben wir zuviel Schafsgeduld in der jetzigen Bundesrepublik?

Wagenknecht:
Na ja ich würde sagen, ich würde es nicht als Schafsgeduld bezeichnen, weil das ja – es widerstrebt mir einfach, die Leute für schafsgeduldig zu halten, die lediglich aus dem Grunde, weil sie nicht sehen, was sie machen können, weil sie nicht sehen, welche Alternativen es gäbe, welche Möglichkeiten es gäbe, sich nicht wehren. Ich glaube, dass das mehr eine Verantwortung auch ist, wo sich linke Parteien oder konkret auch die linke Partei, der ich ja angehöre, sich fragen muss, weshalb sie es nicht besser als bisher geschafft hat, Menschen zu motivieren, sich zu wehren.

Gaus:
Also, wann immer ich in diesen Jahren in der Reihe ‚Zur Person’ seit der Wende einen bekennenden oder eine bekennende Sozialistin oder Kommunisten vor der Kamera oder am Mikrophon hatte, habe ich immer gefragt: ‚Glauben Sie an den neuen Menschen?’ Oder: ‚Glauben Sie tatsächlich der alte Adam und die alte Eva können das leisten, was sie - was die kommunistische Idee leisten will? Oder muss man dafür einen neuen Menschen haben?’ Glauben Sie an einen neuen Menschen?

Wagenknecht:
Also, ich glaube, der Mensch war immer sehr, sehr unterschiedlich - je nachdem auch wie die Verhältnisse waren. Und insofern glaube ich nicht unbedingt an einen neuen Menschen. Also, Menschen - es waren immer Menschen, die einerseits die wunderschönsten Gemälde, die wunderschönsten Gedichte geschrieben haben und die die grauenvollsten Verbrechen begangen haben. Und ich glaube, dass sehr die Frage ist, welche Seiten eines Menschen die Gesellschaft fördert, welche sie heraufbeschwört. Und die heutige Gesellschaft ist natürlich von ihrer gesamten Struktur so beschaffen, dass sie gerade dieses Egoistische und gerade dieses Ignorante im Menschen richtig reproduziert, richtig hervorruft, weil der Einzelne natürlich sehen muss, dass er selber überlebt und dann natürlich dem ein oder anderen egal ist, was dem Menschen neben ihm passiert.

Gaus:
Mein Eindruck bei der Beobachtung - der privilegierten Beobachtung natürlich - der DDR war, dass die Menschen auch im System der DDR ziemlich gewinnorientiert waren. ‚Freitag um eins macht jeder seins’. Und insofern bleibt meine Frage: Ist die kommunistische Idee - die ohne Frage zu den wichtigen Grundphilosophien über menschliches Zusammenleben im Abendland gehört - geht sie deswegen immer zugrunde, weil sie einen neuen Menschen voraussetzt, den es nie geben wird?

Wagenknecht:
Also, ich denke auch nicht, dass Sozialismus den vollkommen altruistischen Menschen voraussetzt, sondern im Gegenteil. Natürlich, das war auch ein Problem in der Vergangenheit - oder des ökonomischen Systems, das wir in der DDR hatten. Ich glaube, dass auch eine sozialistische Wirtschaftsordnung bestimmte Anreize setzen muss. Also, dass sie schon Menschen auch – allerdings nicht unter diese Wolfsgesetze bringt, die heute im Grunde bedeuten: Entweder du setzt dich durch, oder du gehst unter - sondern, dass aber trotzdem ein Anreiz da sein muss, der belohnt, wenn sich einer besonders engagiert. Das ist sicherlich schon auch in sozialistischen Betrieben, in öffentlichen Betrieben machbar und sinnvoll. Nur ich glaube nicht daran, dass der Mensch tatsächlich diesen unglaublichen Druck braucht. Sondern im Gegenteil - ich glaube, dass der auch Menschen kaputt macht, der heute im Grunde existiert, wo ich mich entweder tot arbeite oder aber ganz rausfalle und gar nicht sozusagen diesen Mittelweg, der kaum begehbar ist, kaum beschreibbar ist für den Einzelnen.

Gaus:
Ein Problem ist doch, selbst theoretisch, wenn ich es recht weiß, von der sozialistischen Gesellschaft, der kommunistischen Gesellschaft, auf dem Wege zu ihr hin, nie konkret gelöst worden. Nämlich - wie kontrolliert man die Macht und wie kann man die Macht auswechseln? Haben Sie darauf eine Antwort?

Wagenknecht:
Also ich denke, man kann, oder man muss - das ist eine Lehre - Macht so strukturieren, dass sie in jedem Fall immer von Basisbewegungen, von direkten demokratischen Institutionen kontrollierbar bleibt. Also nicht nur von dieser parlamentarischen Ebene, sondern wirklich ganz direkt von der Bevölkerung. Und darauf gibt es unterschiedliche Antworten. Es gibt ja auch auf dieser Welt sehr unterschiedliche gesellschaftliche Ansätze. Also, ich war vor kurzem in Venezuela, die ja einen relativ fortschrittlichen Entwicklungsweg eingeschlagen haben. Sie haben das ja dort auch so gelöst, dass sie neben dem parlamentarischen sehr, sehr starke direkte, basisdemokratische Elemente in das System eingebaut haben. Und das ist im Grunde die einzige Basis auch, die tatsächlich bisher alle Bestrebungen auch der alten Eliten, sozusagen der alten Oligarchie ad absurdum geführt hat. Also, sie konnten den Chavez nicht stürzen, aufgrund dieser starken, ganz direkten Einbeziehung der Bevölkerung.

Gaus:
Noch ein Zitat von Dutschke aus meinem damaligen Interview mit ihm. Zitat: „Die Gesellschaft, die wir anstreben, ist ein sehr langfristiges Prozessresultat. Das heißt, wir können jetzt kein großartiges Gebilde der Zukunft entwickeln. Wir können aber Gliederungsstrukturen sagen, die sich von den jetzigen prinzipiell unterscheiden.“ (Ende des Zitats). Die Änderungen, die Dutschke vorschwebten dabei, zielten auf eine Schwächung der Parteiapparate zugunsten von Basisdemokratie. Geht das in die Richtung, in die Sie eben argumentiert haben?

Wagenknecht:
Also, ich glaube auch, dass man da auch Parteien - man wird sicherlich immer auch Parteien haben. Also ich glaube nicht, dass Parteien als solche ein Übel sind. Die Frage ist aber auch, wie sie sich aufbauen. Also, heutige Parteien sind sehr auf Apparate fixiert. Auch innerhalb der Parteien ist es oft genug so. Das merkt man ja nicht zuletzt bei der Entwicklung der SPD. Das ist ja, das geht ja auch weit von dem weg, was ursprünglich vermutlich mal relativ viele Mitglieder wollten. Es lässt sich aber auf jedem Parteitag durchsetzen, weil die Apparate Parteitage bestimmen. Das heißt, Parteien in sich müssen viel demokratischer kontrollierbar sein. Und auf jeden Fall denke ich, dass parallel dazu - was sich auf dem parlamentarischen repräsentativen Bereich bewegt - diese direkte Einbeziehung der Menschen ganz notwendig ist. Und das setzt natürlich auch voraus ein bestimmtes Bildungssystem, dass die Menschen überhaupt die Möglichkeit haben, sich ja auch ein Bild zu machen über die Verhältnisse. Also, dass sie auch mündig urteilen können, das ist ja etwas, das Bildung voraussetzt, was die Instrumente voraussetzt, um auch Entwicklungen einschätzen zu können und tatsächlich auch eine Meinung haben zu können.

Gaus:
Sie sind, Frau Wagenknecht, wie erwähnt, 1969 geboren. Nehmen wir mal an, Sie wären 20 Jahre früher geboren. Wo hätten Sie gestanden im Prager Frühling 1968?

Wagenknecht:
Das ist eine ziemlich schwierige Frage, weil ich glaube, auch der Prager Frühling war ausgesprochen, also es waren - nach dem, was ich gelesen habe, in den verschiedenen Publikationen und verschieden Ansätzen - es war sozusagen der Ansatz einer ökonomischen Reform, die meines Erachtens dringend notwendig war. Aber es spielten natürlich in diese Entwicklung auch immer Ansätze rein, die tatsächlich bezogen auf eine mehr marktwirtschaftliche und dann eben nicht mehr sozialistische Entwicklung hin tendierten. Und insoweit hätte ich immer – und das war ja auch meine Position dann in der DDR - mich dafür engagiert und dann auch dringendst versucht, etwas dafür zu tun, dass dieses ökonomische und politische System sich reformiert – aber in einem sozialistischen Rahmen und nicht in Richtung eines Anschlusses an eine kapitalistische Entwicklung oder einer Rückwendung zur kapitalistischen Entwicklung.

Gaus:
Wie wird nach Ihrer Voraussicht die bundesrepublikanische Gesellschaft in zehn Jahren aussehen?

Wagenknecht:
Na, wenn man das so genau wüsste. Ich glaube, es gibt leider Gottes zwei Wege. Also ich denke, so wie jetzt, wird die garantiert nicht mehr aussehen, weil das ist einfach nicht fortschreibbar.

Gaus:
Beschreiben Sie die beiden Wege, die Sie sehen!

Wagenknecht:
Entweder wird es – das ist leider das, was derzeit dominiert – dann ein viel stärker repressives System geben, was dann eben diese wachsende Armut, die derzeit produziert wird, irgendwie versucht, zu verwalten. Auch in einem Europa, das sich insgesamt repressiver, militarisierter darstellt, einer Gesellschaft, die man jetzt, jenseits des Atlantiks ja beobachten kann. Das ist ja der Weg eines amerikanisierten, entfesselten Kapitalismus, der dann natürlich auch Demokratie abbaut. Das wäre die eine Variante mit der ganz großen Gefahr richtig rechter Populisten, die dann auf so einem Entwicklungsstrom nach oben gespült werden können. Und die andere Variante - auf die ich natürlich hoffe und für die ich mich auch politisch engagiere - die wäre natürlich, dass sich starke Gegenbewegungen entwickeln auf der Linken, dass soziale Rechte erkämpft werden, einfach weil hunderttausend Leute auf der Straße stehen, weil auch Gewerkschaften wieder kämpfen, weil wieder gestreikt wird, weil tatsächlich soziale Rechte in einer ganz breiten und möglichst auch europaweiten Bewegung beansprucht werden. Da hoffe ich natürlich, dass linke Parteien sich dort dann engagieren. Und dann würde ich auch...

Gaus:
Sieht nicht so aus, nicht? Das sieht nicht so aus.

Wagenknecht:
Also, ich denke, dass sich das auch schon - sozusagen wo die PDS sich engagiert - natürlich in den nächsten Jahren entscheiden wird. Sie ist zur Zeit beides. Sie ist einerseits eine Partei, die in den außerparlamentarischen Bewegungen auch integriert ist, die einen Anteil daran hatte an der Demonstration am 1. November beispielsweise. Und die auf der anderen Seite aber eben beispielsweise in der Berliner Regierungspolitik Dinge tut, die ihre Glaubwürdigkeit zu Recht zutiefst beschädigt.

Gaus:
Darauf kommen wir ja.

Wagenknecht:
Und sie wird sich entscheiden müssen, weil man kann nicht auf beiden Seiten stehen.

Gaus:
Wenn nun Politiker – ich rede jetzt nicht von PDS, wir kommen auf die Frage noch mal – sondern Politiker der SPD, der Union sagen, wir müssen diese Grausamkeiten begehen, die sozialen Grausamkeiten, damit wir wieder festen Boden unter die Füße kriegen - was ist dann Ihr Einwand dagegen?

Wagenknecht:
Ja, die Frage ist, wo wollen sie festen Boden? Also, der einzige und lauteste, der bedauert hat, das Schröder zurückgetreten ist vom Parteivorsitz, war BDI-Chef Rogowski. Also dort den festen Boden, den kriegen sie mit ihrer Politik. Sie kriegen keinen festen Boden im Sinne einer wirtschaftlichen Dynamik oder einer Reanimierung...

Gaus:
Ist möglicherweise die Verlangsamung dieser Reformschritte, die Verlangsamung das moralisch Gebotene heute? Weil mehr, als Verlangsamen ist nicht möglich. Ist das, was die Gewerkschaften in etwa versuchen - ob ihnen das so bewusst ist, ob sie das so formulieren mögen, lasse ich dahingestellt - aber das was sie tun, läuft auf eine Verlangsamung des Abbaus hinaus, was ja, solange er verlangsamt noch für viele Menschen ganz nützlich, ganz gut ist. Ist das das moralisch Gebotene?

Wagenknecht:
Also, es ist sicherlich erst mal ein Erfolg, wenn man soziale Grausamkeiten, soziale Verbrechen verlangsamen, verhindern kann. Aber das macht natürlich die Gesamtentwicklung noch nicht erfreulicher. Denn ob sich das jetzt im Zeitverlauf von drei oder vier Jahren vollzieht, oder ob sich das im Zeitverlauf von sechs oder sieben Jahren vollzieht, ist sozusagen im Endeffekt natürlich trotzdem der gleiche Trend zu einer immer sozial kontrastreicheren Gesellschaft und der gleiche Trend zu immer größerer Armut. Und das ist auch keine Entwicklung, die irgendwie naturläufig wäre. Und natürlich, wenn der Schröder sich hinstellt und sagt, er kann nicht anders - das ist ja bewusst gelogen. Also, er weiß es ja sehr wohl, dass er auch nicht allen zumutet, den Gürtel enger zu schnallen; sondern er mutet es denen zu, deren Gürtel eh schon sehr eng ist. Und bei denen, wo der Gürtel weit genug ist...

Gaus:
Jetzt wird es Agitation - bisher war es Analyse.

Wagenknecht:
Na aber, es ist eben doch so. Und ich meine, es ist auch keine Agitation, dass er lügt. Natürlich lügt er. Es ist nur noch nicht ausreichend. Und ich glaube, dass viele - das zeigen ja auch die Umfragen - das durchschauen. Nur das reicht noch nicht.

Gaus:
Als ein Parlamentspräsident würde ich Ihnen jetzt einen Ordnungsruf erteilen. Bin aber kein Parlamentspräsident - ich bin Interviewer und bin das lieber.
Sie haben im April 1992 in einem Artikel riskiert, wirtschaftliche Leistungen, die es auch zu Stalins Zeiten in der Sowjetunion gegeben habe, zu würdigen. Anderthalb Jahre später sind sie deshalb von Ihren zahlreichen Gegnern in der PDS scharf angegriffen worden. Ihre Position als Linke in der PDS wurde auf dem nächsten Parteitag erheblich geschwächt. War es unpolitisch gewesen von Sahra Wagenknecht, sich in der Situation eine solche Blöße zu geben? Was hat Sie geritten?

Wagenknecht:
Also, ich habe eigentlich nie bei den Dingen, die ich geschrieben habe, drüber nachgedacht, ob mir das jetzt politisch hilft oder nicht hilft, sondern ich habe geschrieben, was ich für richtig hielt. Und das Problem war, dass bei diesem Aufsatz damals natürlich auch jede Menge Trotz im Spiel war und da tatsächlich auch Dinge drin stehen, die ich so nicht mehr schreiben würde. Aber nicht, weil es politisch nicht sinnvoll ist, sondern weil ich - weil man so mit dieser Epoche einfach nicht umgehen kann. Aber ich denke schon – sagen wir mal so, dieser Trotz, der hatte natürlich etwas zu tun mit dieser unglaublichen Denunziation, die damals aber auch alle Seiten unserer Vergangenheit belegte und auch mit diesem – ja, ich fand es einfach auch furchtbar, dass vor allem Leute, die selber Dinge mitgetragen haben, die selber die DDR mitgestaltet haben - was ich einfach auch aus Gründen meines Alters gar nicht mehr konnte - wie die dann ihre eigene Geschichte mit in den Dreck getreten haben. Und dagegen habe ich mich mit einer - zugegeben überzogenen und auch sehr einseitigen Position...

Gaus:
Der alte Adam und die alte Eva. Kein neuer Mensch in Sicht.

Wagenknecht:
Es war ja auch nicht bei allen so. Also, ich denke, sicher gibt es immer – in jedem politischen System hat man Leute, die mitgehen, weil sie es für opportun halten und andere Leute, die sich engagieren und die auch dabei geblieben sind. Es sind ja nicht alle...

Gaus:
Ich behaupte, Anpassung ist ein Menschenrecht der Schwachen. Widersprechen Sie mir?

Wagenknecht:
Die Frage ist, wie weit Anpassung geht. Also sicherlich...

Gaus:
Ich sage: der Schwachen. Ich selbst habe mich nie für schwach gehalten - war vielleicht ein Irrtum. Mir hätte ich Anpassung nicht durchgehen lassen mögen. Also, Anpassung ist ein Menschenrecht der Schwachen. Was sagt Sahra Wagenknecht dazu?

Wagenknecht:
Also, ich denke, dass auch diejenigen, die man sicherlich als moralisch auch schwach bezeichnen muss, oft genug ja im Endeffekt damit nicht viel erreichen. Oft ist ja Anpassung einfach eine Strategie des eigenen Überlebens, der eigenen Besserstellung. Und es hat sich ja oft genug gezeigt, dass die Leute im Endeffekt noch nicht mal was davon hatten, in dem sie sich dann ausspielen ließen gegen andere, benutzen ließen, instrumentalisieren ließen.

Gaus:
Könnte es sein, dass Sie auch aus Lust an Ihrer Fähigkeit auch abstrakt zu denken, theoretisch zu einem Ende zu kommen, zu einem Schluss - könnte es sein, dass Sie das manchmal zu streng sein lässt gegenüber dem Menschen, so wie er ist?

Wagenknecht:
Ich weiß nicht.

Gaus:
Gibt es eine Selbstgefährdung für Sahra Wagenknecht, die darin liegt?

Wagenknecht:
Ich weiß auch eigentlich sehr zu differenzieren. Also wenn jemand - solche Fälle gibt es ja unendlich, dass jemand einfach seinen persönlichen Lebensunterhalt seiner Familie auch sichern muss, dass einer nur noch der Verdiener ist und mir sagt: ‚Also ich kann mich jetzt politisch nicht auch noch engagieren’. Da hängen zwei Kinder dran, da hängt eine Ehefrau dran. Das ist für mich eine ganz andere Kategorie, als wenn jemand in herausgehobener politischer Position - meist auch mit relativ gutem Einkommen - sich dann für bestimmte Dinge...

Gaus:
Dann gehört er nicht zu den Schwachen. Das war meine Einschränkung.

Wagenknecht:
Na gut. Die Frage ist, in welcher Hinsicht schwach: moralisch schwach und von Charakter schwach?

Gaus:
Nein, ich habe sozial schwach gemeint. Sie haben in den 90er Jahren Philosophie und Literatur studiert und eine Magisterarbeit über die Hegelrezeption des jungen Marx gemacht, die auch als Buch erschienen ist. Sie arbeiten jetzt an einer volkswirtschaftlichen Dissertation. Ohne Frage gehört Sahra Wagenknecht zur Bildungselite der deutschen Politiker und Politikerinnen. Sind Sie gelegentlich erschöpft vom politischen Gewerbe und erlauben sich den verstohlenen Gedanken an einen Lehrstuhl in einem elfenbeinernen Turm?

Wagenknecht:
Also, ich müsste lügen, wenn ich nein sagen würde, aber...

Gaus:
Sie erlauben sich den Gedanken manchmal.

Wagenknecht:
Es ist natürlich so, dass es Situationen gibt, wo man – also, ich versuche ja beides. Ich versuche ja nicht, wirklich nicht, diese Art Berufspolitiker zu werden, der heutzutage durch einen Alltag von vierzehn Stunden Terminabfolge - wo man nicht mehr zum Denken kommt - geprägt ist. Ich versuche jetzt beides. Und ich merke natürlich, dass es ausgesprochen schwierig ist. Weil, ich habe die Wochen und Monate auch, wo ich nicht mehr zum Denken komme, nicht mehr zur wissenschaftlichen Arbeit komme. Und natürlich ist da manchmal - fragt man sich, ob das, was da langfristig nützlicher ist, das Wissenschaftliche wäre oder das Politische. Aber es ist trotzdem – sonst säße ich wahrscheinlich auch nicht hier – bei mir schon so, dass ich das dann auch wieder abwehre und schon sage, einfach mich zurückziehen ist eine Flucht. Und es wäre auch etwas, wo ich mich dann selber nicht mehr im Spiegel angucken wollte.

Gaus:
Leben Sie von Ihrer publizistischen Arbeit und von Ihren Vorträgen?

Wagenknecht:
Ja, so...

Gaus:
Heute gehören Sie wieder als Linke zum Vorstand der PDS. Sie sind auf der PDS-Kandidatenliste für die Europawahl aufgestellt. Was ist für Sie das Wichtigste, die wesentliche Funktion der PDS? Fundamentalopposition oder Kompromissfähigkeit, in gegebener Lage auch von der Fundamentalopposition abzugehen?

Wagenknecht:
Also, ich denke Kompromissfähigkeit gehört sicher zur Politik. Die Frage ist, ob man in der Richtung und in den Grundansätzen in diesen Kompromissen erkennbar bleibt. Also, man kann natürlich Kompromisse machen. Einfach in dem Sinne - die langfristigen Ziele, die ich mir vorstellen würde, sind heute sicherlich nicht machbar und sicher auch auf Basis einer Landesregierung erst recht nicht machbar. Aber die Frage ist, schafft man es, sozialere Regelungen durchzusetzen...

Gaus:
...und zu bezahlen. Bei allem, was Sie sagen, wird bei denen die interessiert genug auch an Theorien sind - da Sie bis jetzt dran geblieben sind - wird dann immer gesagt sein, von vielen: ‚Wie will sie das bezahlen’?

Wagenknecht:
Aber diese Gesellschaft ist unendlich reich. Und diese Gesellschaft hat genug Geld. Die Frage ist ja nur, ob die Politik den Mut hat, das Rückrat hat, das Geld auch zu holen.

Gaus:
Da müssten Sie an die Eigentumsfrage ran, mindestens an die Verwaltung des Eigentums.

Wagenknecht:
Also, sie müssen langfristig – das ist ja meine Grundüberzeugung - muss man ans Eigentum ran, wenn man Einkommen umverteilen will. Kurzfristig kann man natürlich auch - das zeigt ja die Spannweite kapitalistischer Gesellschaften, die es historisch gab - kann man natürlich auch innerhalb dieses Kapitalismus bestimmte Regulierungen einziehen und bestimmte Fesseln von Kapitaldynamik, die dann zu sozialeren Regelungen führen. Das geht auch auf Landesebene...

Gaus:
Schadet die Teilhabe der PDS an der Regierungsebene der SPD, der PDS im Ganzen?

Wagenknecht:
Der Berliner?

Gaus:
Ja.

Wagenknecht:
Die schadet durch die Art, wie sie gemacht wurde, ganz sicher. Und ich glaube, dass das Grundproblem dieser Regierungskonstellation natürlich war, dass man nicht – Also, die SPD hat uns ja nicht deswegen, also wollte nicht deswegen mit uns koalieren, weil sie, weil wenigstens dieser gemeinsame Wille da war, sozialere Politik in Berlin - bei allen Beschränkungen und bei allen Engpässen, die es da gab - so umzusetzen. Sondern, ich hatte von Anfang an das Gefühl - und das haben auch bestimmte SPD-Strategen sehr deutlich gesagt - es ging darum, eine Partei, die im Ostteil Berlins fast 50% hatte, dadurch, dass man sie in die Regierung hineinnimmt, im Grunde als Opposition, als Protestpartei, als Mobilisierungsfaktor von Protest auszuschalten und dadurch diese rigide Sparpolitik durchzusetzen, die überhaupt nicht notwendig ist. Also, es ist ja auch nicht wirklich Sparpolitik. Es ist eben - in einem Bereich spart man; da wo keine Lobbys sind. Und in anderen Bereichen - zum Beispiel bezogen auf diese gesamten unsäglichen Immobilienfonds - wird eben nicht gespart, da wird immer noch Geld rein gesteckt. Und das ist eben etwas, wo sehr viele Leute, denke ich, mit Recht sagen: ‚Ja, dafür haben wir doch die PDS nicht gewählt’.

Gaus:
Glauben Sie, dass manche in der PDS mit der Partei ganz gern in der SPD aufgehen würden?

Wagenknecht:
Mag den ein oder anderen geben. Ich glaube, dass es sicherlich in der Mitgliedschaft nicht allzu viele gibt. Weil, es war ja auch - also gerade in den alten Bundesländern, wer da zur PDS gekommen ist, der ist es ja nach 1990. Es ist ja viel komplikationsloser in die SPD zu gehen. Man hat...

Gaus:
Aber dann ist die PDS im Westen – sie haben in Dortmund mehr Erststimmen als Zweitstimmen bei der Bundestagswahl, bei der letzten, dennoch - mit Respekt vor ihrer Erststimmenzahl - die PDS ist im Westen nach wie vor ein Schmuddelkind und nicht wirklich eine anerkannte Größe.

Wagenknecht:
Beides. Also, sie ist sicherlich bei einigen auch noch - sozusagen steht sie in der Ecke, in die man sie gern gestellt hat. Aber ich glaube, inzwischen ist auch im Westen unser größeres Problem, dass manch einer uns auch schon für eine ganz stinknormale Partei hält, von der man nicht mehr erwartet als von anderen Parteien. Und ich glaube, dass wir dagegen - vor allem, dass wir das wieder aufbrechen müssen. Das habe ich auch in Dortmund erlebt - und damals gab es noch nicht Berliner Regierungspolitik - also gerade sozial Schwache, die tief enttäuscht sind von anderen Parteien, eben auch von uns, ja erst mal mit der Skepsis auch die PDS betrachten: Seid ihr so wie andere? Geht ihr nicht den gleichen Weg?

Gaus:
Man sagt, die Deutschen – schon ungerecht zu sagen, die Deutschen – man sagt, die Geschichte hat gezeigt, dass Mehrheiten in Deutschland bei wirtschaftlicher Not eher nach rechts als nach links gehen.

Wagenknecht:
Also ich denke, das hängt auch davon ab, wie sich linke Parteien verhalten und wie sie darum kämpfen, auch Menschen zu erreichen.

Gaus:
Erlauben Sie mir eine letzte Frage: Was erheitert Sie dann und wann? Bei was können Sie mal entspannen?

Wagenknecht:
Also, entspannen – wenn ich wandere, wenn ich lese, wenn ich - was leider viel zu selten noch möglich ist - aber zum Beispiel nach wie vor liebend gern noch Shakespeare und Goethe lese. Das bringt auch unglaublichen Abstand. Also gerade Shakespeare - wenn man irgendwie gerade so irgendwelche Intrigen und irgendwelche politischen Kämpfe hinter sich hat und liest ein Shakespeare-Drama geht man mit all dem gelassener um. Man weiß natürlich auch, dass es nicht neu ist, solche Auseinandersetzungen zu führen. Und das, ja ermutigt dann auch irgendwo, weiter zu machen.

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